Der Preuße unter den Meerestieren

Disziplin wird beim Sepia officinalis groß geschrieben. Der Kopffüßer hat nun den Marshmallow-Test bestanden. Nomen est omen, möchte man bei dem bürokratisch klingenden Namen meinen. Aber nur im Lateinischen. Auf Deutsch heißt er schlicht und ergreifend „Gewöhnlicher Tintenfisch“. Der psychologische Marshmallow-Test war in den 1960er Jahren entwickelt worden, um die Willenskraft von Kindern zu prüfen.

Sepia officinalis mit Pickelhaube
Sepia officinalis mit Pickelhaube

Der Marshmallow-Test

Beim Marshmallow-Test wird Kindern je ein Marshmallow vorgesetzt. Wer ihn gleich isst, genießt sofort diese kleine Leckerei. Wer wartet, bekommt später zwei Marshmallows. Zeitweiliger Verzicht bedeutet also die Aussicht auf größere Belohnung in der Zukunft. Wer sich selbst unter Kontrolle hat, kann langfristigere Ziele verfolgen und erreichen.

Selbstdisziplin ist die wichtigste Charaktereigenschaft, um dem statistisch wahrscheinlichen Schicksal zu entfliehen, dass Kinder nicht mehr erreichen können als ihre Eltern vor ihnen. Selbstdisziplin ermöglicht soziale Mobilität auch bei ungünstigen gesellschaftlichen und familiären Ausgangsbedingungen. Langzeitstudien zeigten, dass wer bei dem Test schlecht abschnitt, in der Zukunft ein höheres Risiko hatte, arm oder kriminell zu werden.

Unter den Wirbeltieren haben Menschen, Menschenaffen, Raben, Papageien und Hunde den Test bestanden. Das sind alles soziale und langlebige Arten. Tintenfische haben jetzt als erste Wirbellose gezeigt, dass sie selbstbeherrscht planen und handeln können. Und das, obwohl sie kurzlebige Einzelgänger sind (Lebenserwartung: 2 Jahre).

Der Schrimps-Test

Für die Tintenfische hatte man Schrimps als guten Marshmallow-Ersatz erkannt. Um an die begehrten Schrimps zu kommen, warteten sie lieber 50 bis 130 Sekunden, anstatt sofort verfügbare Garnelen zu essen. Von diesen wendeten sie gelegentlich den Blick ab, vielleicht „um nicht in Versuchung zu geraten“? Das ist der Trick bei Menschen: Sich abzulenken hilft, die eigenen Impulse zu kontrollieren. Ausharren wird dadurch leichter erträglich.

Konvergente Evolution

Während soziale Wirbeltiere Selbstkontrolle erfunden haben, um im Sozialverband harmonischer zu agieren oder um Geduld für die Anfertigung von Werkzeugen aufzubringen, könnten Tintenfische Selbstkontrolle als Nebenprodukt ihrer Lauerjägerschaft entwickelt haben. Das lange Warten auf arglose Beute trainiert das Beherrschen der eigenen Impulse.

Genauso wie bei Menschen und Schimpansen, zeigte sich auch bei Tintenfischen, dass Selbstkontrolle und Intelligenz (Lernfähigkeit) miteinander einhergehen. Offenbar sind sie Naturtalente in Sachen Intelligenz und Selbstdisziplin.

Wir müssen Selbstdisziplin langwierig und oft mühselig lernen, also einüben. Beim Marshmallow-Test mit Kindern zeigte die eine Hälfte der Probanden Willenskraft, die andere Impulshandeln. Die Tintenfisch-Probanden haben alle, wenn auch verschieden lang, Willenskraft bewiesen.